Artikel 2 Grundgesetz (GG)
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Artikel 12 Abs. 1 (GG)
Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.
§ 1 Abs. 3 Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde (ZHG)
Ausübung der Zahnheilkunde ist die berufsmäßige auf zahnärztlich wissenschaftliche Erkenntnisse gegründete Feststellung und Behandlung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten.
§ 1 Abs. 2 Satz 1 Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ)
Vergütungen darf der Zahnarzt nur für Leistungen berechnen, die nach den Regeln der zahnärztlichen Kunst für eine zahnmedizinisch notwendige zahnärztliche Versorgung erforderlich sind.
§ 192 Abs. 1 Gesetz über den Versicherungsvertrag (VVG)
Bei der Krankheitskostenversicherung ist der Versicherer verpflichtet, im vereinbarten Umfang die Aufwendungen für medizinisch notwendige Heilbehandlung wegen Krankheit oder Unfallfolgen und für sonstige vereinbarte Leistungen einschließlich solcher bei Schwangerschaft und Entbindung sowie für ambulante Vorsorgeuntersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten nach gesetzlich eingeführten Programmen zu erstatten.
§ 1 Abs. 2 Satz 1 Musterbedingungen 2009 für die Krankheitskosten- und Krankenhaustagegeldversicherung (MB/KK 2009)
Versicherungsfall ist die medizinisch notwendige Heilbehandlung einer versicherten Person wegen Krankheit oder Unfallfolgen.
§ 4 Abs. 6 1. Teilsatz MB/KK2009
Der Versicherer leistet im vertraglichen Umfang für Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden und Arzneimittel, die von der Schulmedizin überwiegend anerkannt sind. Er leistet darüber hinaus für Methoden und Arzneimittel, die sich in der Praxis als ebenso erfolgversprechend bewährt haben oder die angewandt werden, weil keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stehen;
I.
Maßgeblich für die Berechnungs- und Erstattungsfähigkeit zahnärztlicher Leistungen ist das Kriterium der medizinischen Notwendigkeit. Der Begriff der (zahn-)medizinischen Notwendigkeit findet Verwendung sowohl in § 1 Abs. 2 GOZ als auch in § 1 Abs. 2 MB/KK 2009. Eine Definition der medizinischen Notwendigkeit erfolgt in den genannten Regelwerken nicht.
Diese Lücken hat der Bundesgerichtshof (BGH) in zahlreichen Entscheidungen geschlossen:
„Eine Heilbehandlungsmaßnahme ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats medizinisch notwendig, wenn es nach den objektiven medizinischen Befunden und wissenschaftlichen Erkenntnissen im Zeitpunkt der Behandlung vertretbar war, sie als medizinisch notwendig anzusehen. Das ist im Allgemeinen dann der Fall, wenn eine wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode zur Verfügung steht, die geeignet ist, die Krankheit zu heilen oder zu lindern (…).“
(beispielhaft BGH Az.: IV ZR 278/01 vom 12.03.2003).
Um medizinisch notwendig zu sein, muss gemäß der Rechtsprechung des BGH die in Rede stehende Leistung auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Zu Umfang, Qualität und Verbreitung dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse führt der BGH nicht aus.
Des Weiteren fordert der BGH auch nicht, dass die Leistung mit absoluter Gewissheit oder auch nur an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den gewünschten Heilungserfolg gewährleistet, sondern lediglich deren Vertretbarkeit im konkreten Fall.
II.
Wissenschaftliche Leitlinien sind „systematisch entwickelte Aussagen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiedergeben, um die Entscheidungsfindung von Ärzt*innen sowie Angehörige von weiteren Gesundheitsberufen und Patient*innen/Bürger*innen für eine angemessene Versorgung bei spezifischen Gesundheitsproblemen zu unterstützen“
(Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften e. V., AWMF online).
Die AWMF ordnet die Leitlinien in vier Klassen (S1, S2k, S2e, S3), die sich am Entstehungsprozess der Leitlinien orientieren.
Die Qualitätsanforderungen reichen dabei von der informellen Konsensfindung eines Expertengremiums („S1“) bis hin zu einer evidenz- und konsensbasierten Entscheidungsfindung durch ein repräsentatives Gremium mittels systematischer Recherche und Bewertung der ausgewählten Literatur, die in einen strukturierten Konsens mündet („S3“).
Aus diesem Konsens folgen Handlungsempfehlungen unterschiedlicher Intensität.
III.
Der wiederholt vertretenen Auffassung, wonach lediglich leitliniengemäßen Leistungen eine medizinische Notwendigkeit innewohne und ausschließlich derartige Leistungen im Sinne der GOZ berechnungsfähig und gemäß den MB/KK 2009 erstattungspflichtig seien, kann nicht gefolgt werden.
Bereits § 1 Abs. 3 ZHG verlangt lediglich, dass die zahnärztliche Behandlung auf Grundlage „wissenschaftlicher Erkenntnisse“ erfolgen muss, § 4 Abs. 6 der MB/KK 2009 sieht eine Leistungspflicht nicht nur bei einer „von der Schulmedizin überwiegend anerkannten“ Leistung, sondern bereits dann, wenn sich die betreffende Leistung als „ebenso erfolgversprechend bewährt hat“.
Vorstehende Begrifflichkeiten gestatten in keinem Fall die Auslegung, wonach nur leitliniengemäße Leistungen berechnungs- und erstattungsfähig sind.
So beurteilt es auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages:
„Die Leitlinien sind als Handlungsempfehlungen formuliert, jedoch mangels gesetzlicher Grundlage rechtlich nicht bindend, sodass von ihnen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss. Sie haben somit weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung und entbinden den Arzt nicht von der Überprüfung der individuellen Anwendbarkeit im konkreten Fall.“
(Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 9-3000-094/21 vom 15.11.2021).
Eine Bindungswirkung von Leitlinien lässt sich somit nicht feststellen.
Da wissenschaftliche Leitlinien in der Regel von privatrechtlichen Institutionen erstellt werden, kann ihnen ohnehin keine konstitutive, mithin rechtsverbindliche Wirkung zugesprochen werden.
Auch das Bundesministerium für Gesundheit sieht keine generelle Verbindlichkeit von Leitlinien:
„Grundsätzlich gilt, dass bei der Anwendung von Leitlinien immer auch die Situation des einzelnen Patienten und seine Bedürfnisse zu berücksichtigen sind. Die Therapiefreiheit des Arztes wird nicht eingeschränkt.“
(BMG, Artikel „Leitlinien“ vom 31.05.2016)
Das BMG betont damit die individuelle Therapiefreiheit des Arztes (Art. 12 Abs. 1 GG) und das Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 GG) des Patienten.
Letztendlich bestätigt auch die Rechtsprechung die vorstehenden Standpunkte zur nicht bestehenden rechtlichen Verbindlichkeit von wissenschaftlichen Leitlinien:
„Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände dürfen nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden. … Leitlinien ersetzen kein Sachverständigengutachten. Zwar können sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben; sie können aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten (…).“
(BGH Az.: IV ZR 382/12 vom 15.04.2014)
IV.
Die beschriebene rechtliche Einordnung von Leitlinien in Bezug auf medizinische/zahnmedizinische Leistungen basiert auf dem in Art. 12 GG garantierten Recht auf Berufsausübungsfreiheit: Dieses kann lediglich auf gesetzlicher Grundlage, nicht jedoch durch Feststellungen privatrechtlicher Institutionen geregelt oder beschränkt werden.
Erkennbar wird auch ein leitlinienimmanenter Schwachpunkt. Eine Leitlinie kann ärztliche/zahnärztliche Leistungen immer nur ex post bewerten, kann also immer nur den wissenschaftlichen Kenntnisstand im Zeitraum des Entstehungsprozesses vor Erstellung der Leitlinie abbilden. Bereits unmittelbar nach der Leitlinienerstellung gewonnene wissenschaftliche Erkenntnisse können in eine Leitlinie nicht eingeflossen sein.
Eine fehlende oder nicht eindeutige Empfehlung („Offene Empfehlung“) in Leitlinien zur Vornahme von Leistungen bestreitet zunächst nicht deren medizinische/zahnmedizinische Notwendigkeit, sondern stellt lediglich fest, dass zum aktuellen Zeitpunkt keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz hinsichtlich der in Rede stehenden Leistung besteht.
Letztendlich werden auch nicht alle denkbaren und sinnvollen ärztlichen/zahnärztlichen Leistungen in Leitlinien erfasst. Sofern man also Leistungen, die in Leitlinien nicht erfasst, aber aufgrund langjährig bestätigter Empirie erfolgreich angewandt werden, die medizinische Notwendigkeit absprechen würde, würde wesentlichen Teilen des ärztlichen/zahnärztlichen Leistungsspektrums die medizinische/zahnmedizinische Notwendigkeit abgesprochen. Das hätte aus Patientensicht fatale Folgen.