Qualitätsstandard für die Durchführung ambulanter Narkosen in zahnärztlichen Praxen
Zahnärztliche Indikationsstellung
In bestimmten Situationen kann eine Behandlung unter örtlicher Betäubung nicht möglich sein. Dies ist unter Umständen bei Vorerkrankungen, körperlicher, geistiger oder psychischer Behinderung sowie bei Verhaltensstörungen oder einer sonst wie gearteten Unmöglichkeit eines Eingriffs in Lokalanästhesie der Fall. In der zahnärztlichen Praxis betrifft dies auch Fälle von
- fehlender Kooperationsfähigkeit aufgrund des Alters eines Kindes, seiner Entwicklung und ausgedehnter Befunde wie z.B. dem Vorliegen einer schweren ECC (early childhood caries)1,2,
- unzureichender Kooperationsfähigkeit wegen körperlicher Beeinträchtigungen,
- unzureichender Kooperationsfähigkeit von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung oder demenziellen Erkrankungen und
- komplexen invasiven Therapiemaßnahmen, für die die Schmerzausschaltung und Kooperationsfähigkeit in Lokalanästhesie nicht gegeben ist.
Die Zahnärztin oder der Zahnarzt hat zu prüfen, ob aus zahnmedizinischen Gesichtspunkten eine zahnmedizinische Therapie in Allgemeinanästhesie indiziert ist. Dafür bedarf es neben einer korrekten Indikationsstellung einer umfassenden Therapieplanung. Ziel dieser soll eine vollständige orale Rehabilitation sein.
Bedenken gegen eine Allgemeinanästhesie müssen mit den Risiken der nicht oder nur eingeschränkt durchgeführten zahnärztlichen Behandlung mit dem zuständigen Anästhesisten oder der Anästhesistin abgewogen werden.
Prüfung möglicher Alternativen und anästhesiologische Indikationsstellung
Grundsätzlich sollten zur Vermeidung einer Allgemeinanästhesie alle therapeutischen, analgetischen und sedierenden Möglichkeiten vorab – auch interdisziplinär – ausgeschöpft werden. Dazu gehören die Verhaltensführung, die Anxiolyse und die minimale oder moderate Sedierung. Die Entscheidung zur Allgemeinanästhesie sollte gemeinsam im Team bestehend aus Zahnärztin/Zahnarzt und Anästhesistin/Anästhesist getroffen werden 1.
Basis dieser Entscheidung sollte stets eine individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung unter Einbeziehung sowohl der eingriffs- als auch der patientenspezifischen Risikofaktoren bilden. Ferner müssen bei einer Allgemeinanästhesie im ambulanten Sektor entsprechende Kriterien zur Qualitätssicherung der anästhesiologischen Versorgung erfüllt sein3.
Ablaufschema für die zahnärztliche Entscheidung über den Modus einer zahnärztlichen Behandlung.
Eine Narkose-Indikation steht unter dem Vorbehalt der anästhesiologischen Beurteilung.
In den Disziplinen Kinderzahnmedizin, Zahnmedizin für Menschen mit Behinderungen und Pflegezahnmedizin sind ausreichend Erfahrungen in dem jeweiligen Bereich Voraussetzung für die Einstufung und Behandlung.
Der Anästhesist oder die Anästhesistin ist verantwortlich für das gewählte ambulante Setting, das eingesetzte Anästhesieverfahren sowie für die Überwachung und Aufrechterhaltung der vitalen Funktionen während des Eingriffes und der Aufwachphase. Dies beinhaltet auch die Behandlung von anästhesiebedingten Komplikationen und alle Komplikationen in Bezug auf die Vitalfunktionen während und nach der Anästhesie. Der Zahnarzt oder die Zahnärztin verantwortet den zahnmedizinischen Eingriff als solchen.
Der Zahnarzt oder die Zahnärztin hat während des Eingriffes und in der anschließenden Aufwach- und Nachbeobachtungsphase dem Anästhesie- und Notfallpersonal jederzeit den Zugang zum Patienten oder zur Patientin zu gewährleisten.
Nach Beendigung einer Allgemeinanästhesie (Vollnarkose) ist eine lückenlose postoperative Überwachung erforderlich, um neu auftretende Störungen der Vitalfunktionen frühzeitig erkennen und behandeln zu können. Auch hier greifen die seitens der anästhesiologischen Fachgesellschaften festgelegten Standards für die strukturellen, räumlichen, apparativen und personellen Voraussetzungen sowie die einzuhaltenden Kriterien im Sinne der Qualitätssicherung für eine ambulante Narkose4,5.
Qualitätssicherung
Für die Durchführung von Narkosen in der zahnärztlichen Praxis sollte die Einhaltung der folgenden Rahmenbedingungen gewährleistet sein.
Räumliche, apparative und personelle Vorgaben
Die organisatorischen Voraussetzungen zur zahnmedizinischen Behandlung von Erwachsenen und Kindern in Intubationsnarkose können sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich geschaffen werden, Abstriche im qualitativen Standard der Narkosedurchführung dürfen für ein ambulantes Vorgehen nicht entstehen5.
Räumliche Vorgaben an die Praxis
Der Behandlungsraum, in dem Narkosen durchgeführt werden, soll für die Aufnahme der zusätzlich erforderlichen Ausrüstung und Ausstattung, von mindestens vier anwesenden Personen (Zahnärztin oder Zahnarzt, Anästhesist oder Anästhesistin, zahnärztliche Assistenz, Anästhesie-Assistenz) sowie für die Behandlung etwaiger Notfallsituationen ausreichend groß sein und dem Anästhesisten oder der Anästhesistin ausreichend Zugang zum Patienten oder der Patientin gewähren. Einer Liege ist bei Kindern gegenüber einem Zahnarztstuhl insbesondere aufgrund eines häufig bestehenden Missverhältnisses zwischen den Maßen des Stuhls und der Größe des Kindes sowie der fehlenden Möglichkeit zur Kopf-Tief-Lagerung im Notfall der Vorzug zu geben. Ein ausreichendes Platzangebot für das anästhesiologische Personal sowie ein ungehinderter Zugang zur Patientin bzw. zum Patienten stellen sicher, dass alle notwendigen medizinischen Maßnahmen jederzeit ungehindert durchgeführt werden können, einschließlich einer ggf. notwendige kardiopulmonale Reanimation.
Für den Fall einer schwerwiegenden Komplikation soll die Voraussetzung für einen barrierefreien Liegendtransport in eine qualifizierte Behandlungseinrichtung (z.B. Intensivstation) vorhanden sein. In Altbauten kann eine Prüfung des Treppenhauses oder Durchgängen auf ausreichend Platz notwendig sein.
Postoperative Überwachung
Es soll sowohl aus personeller, räumlicher, organisatorischer als auch apparativer Sicht die Möglichkeit einer adäquaten postoperativen Überwachung bestehen. Nach einer Allgemeinanästhesie ist im Vergleich zur zahnärztlichen Behandlung im Wachzustand ein erhöhter Nachsorgebedarf gegeben. Im Rahmen der postoperativen Aufwachphase bedarf der Patient oder die Patientin einer ständigen und unmittelbaren Überwachung, so lange mit einer Beeinträchtigung vitaler Funktionen und daraus resultierenden Komplikationen zu rechnen ist.
Die Überwachung der Patientin oder des Patienten im Aufwachraum nach Allgemeinanästhesieverfahren kann vom verantwortlichen Anästhesisten oder Anästhesistin selbst vorgenommen oder von ihm oder ihr an Personal mit einer speziellen Ausbildung und Erfahrung im Umgang mit postnarkotischen Patienten delegiert werden. Es gelten die strukturellen Vorgaben der anästhesiologischen Fachgesellschaften3,4.
Aufklärung
Die Aufklärung der Patientinnen und Patienten bzw. deren rechtlichen Vertreterinnen und Vertreter über den geplanten Eingriff erfolgt durch eine Zahnärztin bzw. einen Zahnarzt und über die Allgemeinanästhesie durch eine Anästhesistin bzw. einen Anästhesisten.
Zahnärztliche Aufklärung
Im Vorfeld der zahnärztlichen Versorgung ist über die geplanten Behandlungen (z.B. Füllungsmaterialien, endodontische Maßnahmen, prothetische Versorgung, Extraktionen), Behandlungsoptionen, Alternativen und Prognosen, Folgen oder Risiken der Behandlung oder Nichtbehandlung und Kosten zu informieren und aufzuklären1. Ist eine präoperative zahnärztliche Untersuchung oder die Anfertigung von Röntgenbildern im Wachzustand nur eingeschränkt möglich und somit der Umfang der zahnärztlichen Maßnahmen nicht vollständig vorhersehbar, ist über diese Problematik und einer möglichen Ausweitung der geplanten Behandlungsmaßnahmen ebenfalls aufzuklären. Über das postoperative Verhalten soll insbesondere nach der Anwendung einer lokalen Betäubung (Selbstverletzungsrisiko) und nach chirurgischen Maßnahmen (Nachblutungs- und Infektionsrisiko) aufgeklärt werden. Den Beteiligten soll für Fragen nach dem Eingriff ein Ansprechpartner genannt werden.
Ärztliche Aufklärung
Die anästhesiologische Aufklärung erfolgt durch den Anästhesisten oder die Anästhesistin. Über die Aufklärung zur Allgemeinanästhesie hinaus erfolgt eine Aufklärung über das prä- und postoperative Verhalten. Dies betrifft die Ernährung (Nüchternheit präoperativ, Nahrungsaufnahme postoperativ) und Einschränkungen (Verhalten bei akuten gesundheitlichen Einschränkungen und Infekten). Im Falle einer akuten Erkrankung kann eine Terminverschiebung notwendig sein. Patientinnen und Patienten, Sorgeberechtigte oder rechtliche Vertreter bzw. Vertreterinnen sind darauf frühzeitig hinzuweisen. Für Fragen nach dem Eingriff müssen Patienten und Patientinnen, Eltern und Sorgeberechtigte oder rechtliche Vertreter bzw. Vertreterinnen einen Ansprechpartner genannt bekommen. Zudem ist die Möglichkeit zur Einhaltung der Vorgaben zum Verhalten nach ambulanten Eingriffen in Allgemeinanästhesie vorab abzuklären3.
Zahnärztliche Behandlung
Die Einlage einer Rachentamponade kann empfehlenswert sein. Vor Beendigung des zahnärztlichen Eingriffs soll die Mundhöhle nach verbliebenen Materialien (z. B. Abformmaterial, Watterollen) und Kleinteilen (z. B. Interdentalkeile, Matrizen) inspiziert werden. Zur Allgemeinanästhesie bei Kindern ist eine Lagerung mit Kissen, Armhalterungen und in ausgestreckter Position notwendig. Nach chirurgischen Maßnahmen sollte ein adaptierter Wundverschluss erfolgen.
Behandlungen nicht einwilligungsfähiger Personen
Vor elektiven Behandlungen nicht einwilligungsfähiger Personen in Allgemeinanästhesie müssen sich der Zahnarzt oder die Zahnärztin und Anästhesist oder Anästhesistin der ausdrücklichen Zustimmung des rechtlichen Vertreters oder der rechtlichen Vertreterin versichern und dies nachvollziehbar und rechtssicher dokumentieren.
Kenntnisse des zahnärztlichen Personals
Vor der ersten zahnärztlichen Behandlung in Allgemeinanästhesie müssen
- im Rahmen einer Fortbildung theoretische Kenntnisse über die speziellen Erfordernisse erworben werden und
- praktische Erfahrungen zu allen Aspekten einer zahnmedizinischen Versorgung in Allgemeinanästhesie im Rahmen von Hospitationen gesammelt werden.
Auch wenn die Hauptverantwortung für die Vitalfunktionen der anästhesiologischen Seite obliegt, ist es für das zahnärztliche Team ebenso wichtig, regelmäßig Fortbildungen zum Notfallmanagement zu besuchen, um das Anästhesie-Team in Notfallsituationen entsprechend unterstützen zu können. Die Schulung und Ausbildung des nicht-ärztlichen Praxis-Personals und der Praxis-Inhaberin bzw. des Praxis-Inhabers und ggf. angestellten Zahnärztinnen und Zahnärzten, z.B. durch die regelmäßige und wiederkehrende Absolvierung eines zertifizierten Kurses in Basic Life Support (BLS), ist daher anzustreben. Idealerweise trainieren Anästhesie-Team und zahnärztliches Team regelmäßig gemeinsam das Vorgehen in Notfallsituation in den Praxisräumen.
Im Vorfeld der Durchführung eines Eingriffes in Allgemeinanästhesie in einer Zahnarztpraxis sollten die räumlichen, apparativen und personellen Vorgaben geprüft werden und der Ablauf und die Nachsorge festgelegt werden. Der Ablauf wird zusammen mit dem Anästhesisten oder der Anästhesistin besprochen und die einzelnen Zuständigkeiten schriftlich festgelegt. Zur besseren Übersicht und Dokumentation sollen zwingend die bereits vorgestellten Vereinbarungen der zuständigen wissenschaftlichen Fachgesellschaften genutzt werden6.
Quellen
1 Rahman A, Hinrichs-Priller J (2022). Ambulante zahnärztliche Behandlung von Kindern und Jugendlichen in Allgemeinanästhesie. Oralprohylaxe Kinderzahnheilkd 44(4):22-25.
2 American Academy of Pediatric Dentistry. Behavior guidance for the pediatric dental pa-tient. The Reference Manual of Pediatric Dentistry. Chicago, Ill.: American Academy of Pe-diatric Dentistry; 2023:359-77.
3 DGAI und BDA et al., Vereinbarung zur Qualitätssicherung ambulante Anästhesie“, Anästh. Intensivmed. 2005; 46:36-37
4 Anästh. Intensivmed. 2006; 47:50-51 und „Überwachung nach Anästhesieverfahren“, Anästh. Intensivmed. 50:S486-S489
5 Mindestanforderungen an den anästhesiologischen Arbeitsplatz“, Anästh. Intensivmed. 2013 ;54:39-6 www.oralchirurgie.org
Beteiligte Organisationen
Bundeszahnärztekammer
Prof. Dr. Dr. Bilal Al-Nawas, Deutsche Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (DGMKG)
Prof Dr. Grietje Beck, Interdisziplinärer Arbeitskreis für Zahnärztliche Anästhesie (IAZA)
Prof. Dr. Katrin Bekes, Deutsche Gesellschaft für Kinderzahnmedizin (DGKiZ)
Prof. Dr. Christoph Benz, Bundeszahnärztekammer
Dr. Guido Elsäßer, Deutsche Gesellschaft Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung oder besonderem medizinischen Unterstützungsbedarf (DGZMB)
Dr. Dr. Wolfgang Jakobs, Berufsverband Deutscher Oralchirurgen (BDO)
Dr. Dieter Mentges Bundesverband für Ambulantes Operieren (BAO)
Dr. Rebecca Otto, Kinderzahnärztin
Prof. Dr. Tobias Piegeler, Interdisziplinärer Arbeitskreis für Zahnärztliche Anästhesie (IAZA)
Prof. Dr. Andreas Schulte, Deutsche Gesellschaft Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung oder besonderem medizinischen Unterstützungsbedarf (DGZMB)
Prof. Dr. Diana Wolff, Vereinigung der Hochschullehrer