Die Rechtsprechung

Fachliche und gebührenrechtliche Probleme in Urteilsbegründungen


Ausschuss Gebührenrecht der Bundeszahnärztekammer


Artikel 20 Abs. 2 Grundgesetz (GG)  

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

Artikel 97 Abs. 1 GG

Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.

§ 287 Abs. 1 1. Satz Zivilprozessordnung (ZPO)

Ist unter den Parteien streitig, ob ein Schaden entstanden sei und wie hoch sich der Schaden oder ein zu ersetzendes Interesse belaufe, so entscheidet hierüber das Gericht unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung. Ob und inwieweit eine beantragte Beweisaufnahme oder von Amts wegen die Begutachtung durch Sachverständige anzuordnen sei, bleibt dem Ermessen des Gerichts überlassen.

§ 173 1. Teilsatz Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)

Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozessordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen; … 

§ 6 Abs. 1 Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ)

Selbstständige zahnärztliche Leistungen, die in das Gebührenverzeichnis nicht aufgenommen sind, können entsprechend einer nach Art, Kosten- und Zeitaufwand gleichwertigen Leistung des Gebührenverzeichnisses dieser Verordnung berechnet werden. Sofern auch eine nach Art, Kosten- und Zeitaufwand gleichwertige Leistung im Gebührenverzeichnis dieser Verordnung nicht enthalten ist, kann die selbstständige zahnärztliche Leistung entsprechend einer nach Art, Kosten- und Zeitaufwand gleichwertigen Leistung der in Absatz 2 genannten Leistungen des Gebührenverzeichnisses der Gebührenordnung für Ärzte berechnet werden.

§ 6 Abs. 2GOZ „1988“

Selbstständige zahnärztliche Leistungen, die erst nach Inkrafttreten dieser Gebührenordnung auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnisse entwickelt werden, können entsprechend einer nach Art, Kosten- und Zeitaufwand gleichwertigen Leistung des Gebührenverzeichnisses für zahnärztliche Leistungen berechnet werden.

§ 4 Abs. 2 4. Satz GOZ

Eine Leistung ist methodisch notwendiger Bestandteil einer anderen Leistung, wenn sie inhaltlich von der Leistungsbeschreibung der anderen Leistung (Zielleistung) umfasst und auch in deren Bewertung berücksichtigt worden ist.

Geb.-Nr. 2197 GOZ

Adhäsive Befestigung

Geb.-Nr. 2180 GOZ

Vorbereitung eines zerstörten Zahnes mit plastischem Aufbaumaterial zur Aufnahme einer Krone

Geb.-Nr. 213 GOZ „1988“

Parapulpäre oder intrakanaläre Stiftverankerung einer Füllung oder eines Aufbaus, je Stiftverankerung 


I.

Die in Artikel 20 Abs. 2 GG verankerte Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative hat sich als demokratisches Grundprinzip über Jahrzehnte in Deutschland bewährt.
Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung spielt dabei eine tragende Rolle: Die Richterschaft ist in ihren Entscheidungen gemäß Artikel 97 Abs. 1 GG ausschließlich dem Gesetz verpflichtet.
Ebenso sind Richter gemäß § 287 Abs. 1 Satz 1 ZPO frei in der Beweiswürdigung und in ihren Entscheidungen nur der eigenen Überzeugung unterworfen. Diese Freiheit beinhaltet auch die Entscheidung über die Hinzuziehung eines gerichtlich bestellten Sachverständigen.
Nach Maßgabe § 173 1. Teilsatz VwGO findet die Zivilprozessordnung auch auf Verwaltungsgerichtsverfahren Anwendung.

Von Richtern herausragende spezifische Sachkunde zu allen denkbaren Fachthemen zu erwarten ist unredlich und unrealistisch.
Das juristische Instrument des Sachverständigen ist deshalb in Fällen, in denen die objektive Beurteilung einer fachspezifischen Problemstellung erforderlich ist, in der Regel unverzichtbar.
Um ein solches Fachgebiet handelt es sich beim zahnärztlichen Gebührenrecht. Es ist spezifisch und erfordert unabdingbar zahnärztlichen Sachverstand, der von einem Richter nicht erwartet werden kann und darf.

Folgerichtig zeigt der Bundesgerichtshof (BGH) die Grenzen der richterlichen Entscheidungsbefugnis auf. In einer das Urteil der Vorinstanz aufhebenden Entscheidung stellt der BGH (Az.: VI ZR 204/14 vom 13.01.2015) fest:

„Das Berufungsgericht hat verkannt, dass der Tatrichter, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten darf, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Dies ist in dem angefochtenen Urteil nicht ausreichend dargetan.“


II.

Zu welchem Ergebnis eine Verletzung dieses vom BGH statuierten Rechtsgrundsatzes führen kann, wird im Folgenden an einer Entscheidung des VG München (Az.: M 17 K 18.4534 vom 6.04.2020) exemplarisch dargestellt.
Ziel dieser Stellungnahme ist es keinesfalls, einen einzelnen Richter zu schelten, sondern anhand von Auszügen aus den Entscheidungsgründen exemplarisch aufzuzeigen, wie sich in Gerichtsverfahren fehlender zahnärztlicher Sachverstand negativ auf ein Urteil auswirken kann.

Gegenstand des Verfahrens ist die analoge Berechnung der parapulpären Stiftverankerung einer „Aufbaufüllung“. Diese Leistung ist Gegenstand des „Kataloges selbstständiger zahnärztlicher gemäß § 6 Abs. 1 GOZ analog zu berechnender Leistungen“ (Stand September 2023) der Bundeszahnärztekammer und war unter der Geb.-Nr. 213 GOZ selbstständige Leistung in der bis zum 31.12.2011 geltenden GOZ.

Nachstehend werden Auszüge (Zitate in „“) aus den Entscheidungsgründen des betreffenden Urteils auf fachlicher-/gebührenrechtlicher Grundlage kommentiert.


III.

„Es fehlt…an den materiellen Voraussetzungen für die Analogberechnung nach § 6 Abs. 2 GOZ.“

Maßgeblich für die Bewertung und Berechnung von nicht im Gebührenverzeichnis der GOZ beschriebenen Leistungen ist seit dem 1.01.2012 § 6 Abs. 1 GOZ und nicht § 6 Abs. 2 GOZ. § 6 Abs. 2 GOZ war befasst mit der Handhabung analoger Leistungen nur bis zum 31.12.2011 (GOZ ´88). Die Regelungsinhalte unterscheiden sich hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen einer analogen Berechnung (s.u.).
Ob es sich vorliegend lediglich um einen Protokollfehler handelt oder im Einzelfall tatsächlich das Regelwerk der bis zu 31.12.2011 geltenden GOZ als Entscheidungsgrundlage herangezogen wurde, ist nicht ersichtlich.

„Die Verankerung der Aufbaufüllung mit einem parapulpären Stift ist schon nicht als eigenständige Leistung anzusehen. In der Neufassung der GOZ aus dem Jahr 2012 ist die vorher noch existierende Leistung für parapulpäre Stifte (GOZ Nr. 2130 a.F.) durch den Verordnungsgeber bewusst nicht mehr aufgenommen worden. Es ist daher davon auszugehen, dass der Verordnungsgeber diese Leistung nicht als zusätzlich berechenbar ansieht.“

Gemeint ist zunächst die Geb.-Nr. 213 GOZ der GOZ ´88, vierstellige Gebührennummern wie die „GOZ Nr. 2130 a.F.“ („a.F.“ vermutlich in der Bedeutung „alte Fassung“) existierten in der GOZ ´88 nicht.
Handelt es sich wiederum um einen Schreibfehler, eine Nachlässigkeit oder ist es doch Ausdruck mangelnder Grundkenntnisse im Gebührenrecht?
Das Gericht verliert sich darüber hinaus in nicht belegten, unbegründeten Spekulationen über mögliche Motive des Verordnungsgebers. 

Höherinstanzliche Rechtsprechung hat bereits klargestellt, dass aus dem Entfall einer Leistung nicht gefolgert werden kann, dass diese nicht mehr berechnungsfähig sein soll, sondern dass in derartigen Fällen eine analoge Berechnung vorzunehmen ist (OLG Düsseldorf Az.: I-4 U 70/17 vom 25.10.2019).

Diese Beurteilung wird gestützt durch die Änderung der Voraussetzung analoger Berechnungen bei der Novellierung der GOZ: Die Analogie einer zahnärztlichen Leistung ist nicht mehr nur dann angezeigt, wenn diese auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnisse nach Inkrafttreten der GOZ ´88 entwickelt worden war, sondern bereits auch dann, wenn Sie bei der Novellierung nicht in das Gebührenverzeichnis der GOZ aufgenommen wurde, bzw. nicht unter den dem zahnärztlichen Zugriff eröffneten  Leistungen der Gebührenordnung für Ärzte beschrieben ist.
Mit dieser Änderung hat der Verordnungsgeber dem Umstand Rechnung getragen, dass zum 1.01.2012 keine vollständige, sondern lediglich eine punktuelle Novellierung der GOZ erfolgt ist.

„Für die Verankerung von Füllungen wurde in der neuen Fassung der GOZ die Ziffer 2197 zusammen mit der Ziffer 2180 neu aufgenommen. Mit diesen Ziffern sind alle Maßnahmen zur Befestigung von Aufbaufüllungen in der GOZ aufgeführt und abgegolten.“

An dieser Stelle wird es sowohl zahnmedizinisch-fachlich als auch gebührenrechtlich abstrus. Wie die auf chemischen Prozessen beruhende adhäsive Befestigung eines Aufbaumaterials dessen rein mechanische Verankerung mit einem parapulpären Stift umfassen soll, ist bereits aus zahnmedizinischer Sicht nicht nachvollziehbar.
Ebenso ist es fachlicher Unsinn, dass eine „Aufbaufüllung“ auch dessen parapulpäre Stiftverankerung umfasst. Es handelt sich jeweils um völlig unterschiedliche Leistungen.

Gebührenrechtlich wird der parapulpäre Stift weder von der Leistungsbeschreibung der Geb.-Nr. 2197 GOZ noch von derjenigen der Geb.-Nr. 2180 GOZ erfasst. 
Damit aber kann die parapulpäre Stiftverankerung als selbstständige Leistung auf Grund § 4 Abs. 2 GOZ weder inhaltlicher Bestandteil der Geb.-Nr. 2197 noch der Geb.-Nr. 2180 GOZ sein. 

Legt man darüber hinaus die Gebühr der Geb.-Nr. 213 GOZ „1988“ (14,23€ zum 2,3-fachen Steigerungssatz je Stiftverankerung) zugrunde, so würden wesentliche Teile der Vergütungen sowohl der Geb.-Nr. 2180 GOZ (19,40€ zum 2,3-fachen Steigerungssatz) als auch der Geb.-Nr. 2197 GOZ (16,82€ zum 2,3-fachen Steigerungssatz) bereits bei der Einbringung eines parapulpären Stiftes aufgezehrt. Auch aufgrund dieses Gebührenvergleichs kann die eine Leistung gemäß § 4 Abs. 2 GOZ nicht Bestandteil einer der beiden anderen Leistungen sein.

„Im Übrigen bestehen auch Zweifel an der Frage der Vergleichbarkeit der abgerechneten Leistung (GOZ Ziffer 2130: Kontrolle, Finieren/Polieren einer Restauration“) mit der tatsächlich erbrachten Leistung (Parapulpärer Stift) als weitere Voraussetzung der Analogabrechnung. Was die Kontrolle bzw. das Polieren einer Restauration mit dem Setzen eines parapulpären Stifts zur Füllungsverankerung zu tun haben soll, bleibt offen.“

Hier zeigt sich in den Entscheidungsgründen ebenfalls ein grundlegender Irrtum in Bezug auf die zur analogen Bewertung heranzuziehende Leistung: Auszuwählen ist nicht eine gleichartige, sondern eine gleichwertige Leistung anhand der gleichberechtigt anzuwendenden Kriterien Art, Kosten- und Zeitaufwand (§ 6 Abs. 1 GOZ).
Der BGH sieht das genauso: Bei der analogen Berechnung besitzt die „Gleichartigkeit“ keinerlei Vorrang (BGH Az.: III ZR vom 23.01.2003). Die Aufgabe der Analogie besteht vielmehr darin, dem Zahnarzt eine angemessene Vergütung („gleichwertig“) für seine Leistung zu gewähren.

Mehrfach findet sich in den Entscheidungsgründen die Floskel „Die Ausführungen des Beratungszahnarztes überzeugen.“
Wären die rechtlichen Konsequenzen nicht so tragisch und die gebührenrechtliche Hilflosigkeit des Gerichts nicht so offenkundig, könnte diese Aussage glatt als unfreiwillige Komik durchgehen.


Zahnärztekammern der Länder
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